Rudolf L. Reiter - Wandlung eines Künstlers
Jackson Pollock stammt das Aktionistische, Ge- stische, das sich an seinen informellen Bildern ablesen lässt. Lange Zeit legte Reiter die Lein- wand auf den Boden, schüttete, tropfte, spritzte die Farbe darauf, ließ sie verlaufen, walzte und spachtelte und erzeugte so ein Geflecht aus Lini- en, Flecken, durchscheinenden und deckenden Schichten, Spritzern und Schlieren, das in erster Linie den Prozess seiner Entstehung zur Schau stellt. Bilder also, die den Akt des Malens selbst thematisieren und sichtbar machen: die Sponta- neität, die Bewegung, den körperlichen Einsatz des Malers, aber auch sein Balancieren zwischen unbewussten und bewussten Entscheidungen, zwischen Zufall und Kontrolle. Eine Debatte darü- ber, ob dies der alleinige Inhalt einer solchen Ma- lerei sei, hielt sich bis in die 90er Jahre. Doch war es damals, in den 40er und 50er Jahren, auch eine neue Freiheit, nicht nur gegenüber traditio- nellen Form- und Kompositionsgesetzen, und Of- fenheit, die die informellen Bilder demonstrierten. Offen bedeutet dabei, dass sie den Betrachter zu einem assoziativen Sehen auffordern, ohne fest- gelegte Interpretation. Die Spuren, die sich wäh- rend des Malprozesses abgelagert haben, müs- sen in ihrer Mehrdeutigkeit erst entschlüsselt und entziffert werden. Das ist in der Malerei Rudolf L. Reiters nicht anders, doch hat er seinen Bildern von Beginn an Titel gegeben, die deutliche Hin- weise auf mögliche Deutungen sind. “Bevölkerte Seelen“ hieß Reiters erster informeller Zyklus. Später gab es eine Serie mit dem Titel “Zeit der Wiederkehr“, die aktuelle heißt “Metamorpho- sen“. Wie bereits angedeutet, sind es die stän- digen Verwandlungen und Veränderungen der Natur, das Werden und Vergehen, was Reiter hier darzustellen versucht. Natur versteht er dabei als Bewegung, als einen Prozess, der seine Entspre- chung im Malprozess findet. Das Bild ist schließ- lich das Protokoll dieses Prozesses, während dem schöpferische Kräfte und Energien auf ihn einwirken, und damit auch eine Darstellung von Zeit. Im unbewussten Schaffen wird der Künstler zum Medium der Natur, der natura naturans, die sich im Bild spiegelt. “Ich möchte Unsichtbares sichtbar machen“, sagt Reiter. Wobei man den Begriff “Metamorphosen“ auf einer Ebene der reinen Malerei zugleich auch als Verweis auf die ständigen Verwandlungen und Veränderungen der Formen und Strukturen im Laufe des Mal- prozesses verstehen kann. In den aktuellen Bil- dern sind es Farbverläufe, Ströme und Rinnsale, die das Bildgeschehen dominieren. Ein Hinweis darauf, dass Reiter mit Leinwänden arbeitet, die nicht mehr auf dem Boden liegen, sondern auf der Staffelei stehen oder an der Wand lehnen. Reiter benutzt jetzt auch vor allem den Pinsel beim Ma- len, so lange, bis das Lösungsmittel Trichloräthy- len zum Einsatz kommt, das die Farbe in langen Bahnen fließen lässt in verschiedene Richtungen, weil Reiter die Leinwand dabei dreht und wendet. Die fließende Farbe sucht sich ihren Weg über die vorhandenen Bildstrukturen, und diesmal ist der Künstler noch unbeteiligter, als er es sonst schon ist. Man könnte darin auch eine Metapher für den Fluss der Zeit sehen. Markus Zehentbauer Liebesbrief (Auschnitt), Öl auf Papier, 32 x 36 cm, 2004
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