Rudolf L. Reiter - Mit der Seele sehen
ein Kunstwerk ist, welche nicht. Da aber auch die leere Leinwand die Energie der Orte und Betrachter aufgesogen hat, ist sie bei aller Unberührtheit durch den Künstler nicht länger das, was sie ursprünglich war. Reiter wird sie öffentlich bemalen und beide Leinwände der Sammlung Rudolf L. Reiter am Museum Erding – zusammen mit einer Darstellung ihrer Geschichte – übereignen. Somit sind endgültig alle Formen von Energie in den beiden Leinwänden konzentriert und konserviert. Mit dem geistigen Auge schauen Reiters Kunst-Aktion ist vielschichtig. Sie spielt mit Betrachter-Erwartungen und ist ein klares Statement zur Kunst unserer Zeit. Sie mag „magisch“ anmutende Elemente beinhalten und grenzt sich dennoch von platter Esoterik ab. Nicht zuletzt ist sie aber Ausdruck des alternden Künstlers in seiner letzten Schaf- fensperiode, der sich selbst und sein Publikum fragt: Kann ich oder mein Werk den Betrachter oder die Betrachterin wirklich berühren? Deshalb kann die Installation dreier in spezielles Papier gehüllter Leinwände weder Scharlatanerie noch Verpackungskunst sein. Reiter will sich von Christo & Co. deutlich abgrenzen. Durch die Verwendung von Papier kann die Leinwand atmen – sowohl aus wie ein. Der Künstler ist überzeugt davon, dass auf diese Weise sensible Menschen das Kunstwerk von der unbemalten Leinwand unterscheiden können. Gleichzeitig gewinnt selbst die jungfräuliche Leinwand durch die Begegnung mit anderen Orten und Menschen und dem Betrachtetwerden an Energie, obwohl ursprünglich in Reiters Worten „nichts drin“ war. Da beide Leinwände Aufmerksamkeit erfahren, beide ihr Umfeld in sich aufnehmen können, kann die unbemalte Leinwand sich zwar „aufladen“, doch nie dem echten Kunstwerk gleichwertig gegenüberstehen. Am Anfang steht ohnehin die Kunst, der Kunstwille und das Kunstschaffen. Der Künstler legt all seine Kraft in das Kunstwerk. Emotionen, Gedanken, ein Leben in der steten Auseinandersetzung und oft sogar mit dem Ringen mit dem richtigen Bild, mit Komposition und Ausdruck oder schlicht dem Fließenlassen von etwas, was größer als man selbst erscheint, kommen hier zusammen. Erst das schafft Authentizität. Erst das macht denjenigen, der Farbe auf Leinwand verteilt, zum Künstler. „Echt“ ist Kunst, wenn sie vom Be- trachter als solche nicht nur mit den Augen wahrgenommen, sondern im Inneren gespürt wird. Zwei Aha-Erlebnisse machten das Reiter deutlich: Bei dem einen schlug Prof. Dr. Roland Halfen einmal den Betrachtern von Reiters Kunstwerken vor, sie sollten die Augen schließen. Dadurch würden sie die Bilder anders, ja, tiefer erleben als mit offenen Augen. Manche probierten es. Halfen ging es als Anhänger von Rudolf Steiner um das „Andere“ des Bildes. Dieses „Andere“ nahm bei einer davon unabhängigen weiteren Gelegenheit eine Ausstellungsbesucherin deutlich wahr, als sie ihrer Begleiterin Reiters Bilder voller von Kraft getragener Formen schilderte und Farbwirkungen beschrieb. Die Frau war blind, die andere hingegen sehend. Dabei hatte Reiter schon früh erkannt, dass der Blinde der wahre Sehende und in seiner Andersheit Reiche ist. Dies formulierte er 1968 in dem Gedicht „Frag den Blinden, was er sieht“. Eine andere Wahr- nehmung schafft sogar eine Überlegenheit demjenigen gegenüber, der gewohnheitsmäßig auf seine Sinne zugreift. Ähnlich formulierte es bereits Caspar David Friedrich. Dieses gewohnheitsmäßige sinnliche Erleben verwehrt Reiter durch das Verhüllen der Leinwände. Bringt 22 Kosmos Öl auf Leinwand 160 x 120 cm | 2014
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