Rudolf L. Reiter - Mit der Seele sehen
einandergesetzt: Seine „Lebensfäden“ aus dem Jahr 2009 setzten bereits Zeichen. Er selber formulierte dabei: „Das Triptychon ist ein autoritäres Bildformat, das in seiner Komplexität Position zuweist“. Mit dem neuesten Triptychon aber geht Reiter wieder einen radikal neuen Weg, der dem Betrachter echte metaphysische Spiritualität abverlangt: Zwei seiner Tafeln hat er ganz und hermetisch verpackt, und er verrät nur so viel, dass eine der beiden Tafeln bemalt ist, die andere völlig unbearbeitet, jungfräuliche Leinwand, während die dritte Tafel, halb verhüllt, zumindest teilweise erkennbare Motive trägt. Dem Be- trachter ist es aufgetragen zu erfühlen (er braucht den „metaphysischen Code“), was sich hinter welcher der Verpackungen befindet. Wer das für spleenige Überspanntheit hält, der sollte Triptychen aus dem ausgehenden Mittelalter aufsuchen: Diese Altartafeln lassen sich schließen, sie haben eine eher unschein- bare „Alltagsseite“, die die Darstellung, den Inhalt nach innen verbirgt. Wer erstmals etwa zum Veit-Stoß- Altar nach Krakau kommt, der kann nur rätseln, was denn im Innern der berühmten Tafeln dargestellt ist; nur für kurze Zeit, früher nur an hohen Festtagen wurde geöffnet und die prächtige Darstellung sicht- bar. Für den andächtigen Besucher ist das nicht von Belang: Er sitzt oder kniet vor dem Bild und fühlt und ahnt, was vor ihm unsichtbar und mythisch entrückt gezeigt wird. Er „sieht mit der Seele“. Diese im Grunde religiöse oder doch zumindest mythische Vorstellung setzt Rudolf L. Reiter um, denn „was das Sehen betrifft, sind wir Menschen heute Analphabeten“ – das sagt jedenfalls Prof. Michael Bockemühl, der Philosoph und Kunstwissenschaftler, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit der Reflexion künstlerischer Erfahrung und Wahrnehmung den Zusammenhang zwischen Bild, Musik, Bewegung und ästhetischem Denken deutlich zu machen und der dabei moderne Wissenschaft mit anthroposophischem Gedankengut versöhnen konnte. Rudolf L. Reiter wird sein Triptychon auf die Reise schicken und an mehreren Stationen den Betrachter – wie hier in Erding – bitten, die spontanen, unmittelbaren Eindrücke, das, was er mit der Seele sieht“, kurz zu formulieren und einer verschlossenen Box anzuvertrauen. Bis jetzt allerdings geht er davon aus, dass sich sein Triptychon nicht, wie im religiösen Kontext früher üblich, an hohen Festtagen, sondern erst nach seinem Tod enthüllen, aus seiner Verpackung befreien wird. Damit sind wir wieder beim Thema, das er unter Spätwerk versteht: Reiter ändert keineswegs Stil oder Kunstrichtung, aber seine Gedanken und die Inhalte seiner Kunst kreisen um Tod und Wiedergeburt, um das Erinnern an die Zukunft und das Erleben des Vergangenen, um Transzendenz und Metamorphose: Glauben wir an etwas, das wir nicht sehen, fühlen wir künstlerisches Wirken selbst hinter Schleier und Verpackung, sind Vergehen und Ster- ben reversibel, hängen Vergangenheit und Zukunft zusammen, lässt sich der Augenblick unverlierbar zur Ewigkeit dehnen? Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: Triptychon. Josef Erhard Ministerialdirektor a.D. Kultusministerium Erding, 10. März 2018
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