Rudolf L. Reiter - Gegen den Strom
23 61 erfahrbar werden. Von diesem Gesichtspunkt aus, der die ganze Realität der Farbe und bildnerischen Mittel in den jeweils aktu- ellen Anschauungsprozess Iegt, ist die Vergegenständlichung von Farbe durch den Ausdruck „eine rote Fläche“ eine Abstraktion, die den Gewohnheiten unseres Alltagsbewusstseins geschuldet ist. Dieses Alltagsbewusstsein ist mit den darin eingebetteten, habi- tuell gewordenen Identifikations- und Objektivierungsleistungen nicht nur das größte Hindernis beim künstlerischen Anschauen, sondern zugleich das tückischste, da es uns als Betrachter nicht als solches gegenständlich vor Augen tritt. Es ist die Instanz, die erst einmal zusammenfassende Kategorien wie „ungegen- ständlich“ oder „informell“, „Landschaftsmalerei“, „Por trät“ und andere bildet, damit zugleich aber auch das Problem generier t, wie diese Kategorien im Fall von Rudolf L. Reiter eigentlich zusammengehören können. Für den Künstler selber stellt sich dieses Problem aber gar nicht erst, oder es steht höchstens ganz am Ende der Dinge, die ihn im Blick auf sich selbst beschäftigen können. Eine substantielle Frage ist dagegen, wie der seelische Prozess der Identifikation von Gegenständen in einem Bild dem künstlerischen Erleben dienstbar gemacht werden kann statt es zu behindern oder gar zu verunmöglichen. Neo Rauch hat diese Frage einmal mit dem Hinweis auf das höhere Maß an Disziplin beantwor tet, welches gemalte Por träts dem Künstler abverlan- gen. Darin wird deutlich, dass der Zweck der modernen Gegen- ständlichkeit gar nicht mehr primär darin liegen muss, Außen- welt nachzubilden, sondern die individuelle Entwicklung des Künstlers zu fördern. Wenn Rudolf Reiter seine Intention nicht so formulier t, dass es heisst „ich mache Unsichtbares sichtbar“, sondern „ich möchte Unsichtbares sichtbar machen“, dann weist er damit zielgenau auf einen Umstand, den man wahrheitsgetreu nur als Paradox formulieren kann. Denn das Unsichtbare kann als solches niemals sichtbar gemacht werden; allenfalls lässt sich ein lmmaterielles, aber bereits visuell Vorgestelltes materiell „umsetzen“. Dasselbe gilt für Gefühle oder Gedanken. Die Intention, das Unmögliche tun zu wollen, ohne es jemals im banalen Sinne realisieren zu können, zeugt dagegen von dem Instinkt, dass das Kunstwerk sich niemals in der bloßen Sichtbarkeit erschöpft. Denn während sich alles bloß Sinnliche einer quantitativen Analyse unterziehen lässt, ist die ästhetische Erfahrung nicht quantifizierbar. Schönheit lässt sich nicht auf einer Skala ablesen. Da sie ohne den anschau- enden Kunstbetrachter schlicht nicht existier t, ist sie ohne ihn sinnlich auch gar nicht vorhanden. Wie das Motiv einer künstle- rischen Fotografie nur für denjenigen Fotografen ästhetisch reiz- voll ist, der Augen dafür hat, so auch bei Landschaften, Menschen, Situationen. Ästhetische Qualitäten sind somit niemals wie rein sinnliche Qualitäten vollständig gegeben und vorhanden, sondern
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