Rudolf L. Reiter - Gegen den Strom

22 60 Dabei sollte die Aufgabe der Harmonisierung nicht zu eindimen- sional gefasst werden. Denn neben den verschiedenen Sinnes- gebieten, die sich wie beim Gleichgewichtssinn auch auf das Wahrnehmen des eigenen Leibes beziehen, existier t mit der Schmerzwahrnehmung noch ein weiteres mit der Sinneswahr- nehmung vebundenes Gebiet. Daher ist die Harmonisierung der entfalteten und entfesselten Kräfte von Reiters informellen Bildern immer zugleich auch eine Arbeit mit und gegen den realen, nicht erinner ten Schmerz, der im potentiellen Auseinan- derbrechen des bildlichen Organismus unmittelbar erlebt und erfühlt werden kann. Reiters gegenständliche Landschaftsbilder stehen, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, keineswegs in einem Widerspruch zu den informellen Bildern. Mir scheinen sie vielmehr wie ein Komplement zu den informellen Entfesselungsbildern zu sein; ruhig atmende, heilsame, von vornherein mit ausgleichenden Kräften durchtränkte und gesättigte, man könnte fast sagen Gesundungsbilder. Ihr zurückgenommens, zumeist auf die Bild- mitte konzentrier tes Reper toire an wenigen bis einzelnen Objekten, fast immer aus gleichbleibender Distanz betrachtet, die vereinfachten, leicht überschaubaren Kompositionen deuten klar darauf hin, worauf es bei ihnen nicht ankommt. Kandinsky hat mit seinen Perspektiven zugleich die Grundlagen für ein Verständnis von Malerei gelegt, bei welchem der Or t der Kunst nicht mehr ein materielles Objekt ist, welches als End- produkt eines künstlerischen Prozesses vor Augen liegt und als solches analysier t werden kann, sondern bei welchem das Kunst- werk als Organismus von Kräften zu verstehen ist, die konse- quenterweise nur dann existieren, wenn angeschaut wird. Erst im Prozess der Anschauung entfalten sich die Energien, deren Qualitäten im wechselseitigen Zusammenspiel ihre geheimnis- vollen und unergründlichen, aber gleichwohl konkreten Zusam- menhänge entfalten lassen. In diesem Konzept ist der Betrachter nicht mehr der „bloß subjektive“ Rezipient, die dem bereits vollständig abgeschossenen Kunstwerk immer nur gleichsam hinterherfühlen kann, sondern die selbständige, selbstbewusste und selbst kreative Instanz, die durch ihr aktives Anschauen die Potentiale des Kunstwerkes in ähnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen vermag wie ein Musiker in seiner Interpretation einer vorliegenden Par titur. Eine weitere Konsequenz der von Kandinsky zu Beginn der ungegenständlichen Malerei eröffneten Perspektive ist die Ein- sicht, dass es sich bei jeder Farbe, bei jeder Linie oder Kontur, bei Punkt oder Fläche unter künstlerischem Gesichtspunkt um Formen von Energie handelt, und nicht um Objekte oder Gegen- stände. Energien jedoch, die nicht objekthaft vorliegen und nach diesem Modell zu handhaben sind, sondern allein im Anschauen es, zu eist f i Di .

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