Rudolf L. Reiter - Gegen den Strom

19 57 geeignet ist, den immer noch durch und durch rätselhaften Vor- gang des menschlichen – und damit zugleich auch künstleri- schen – Sehens geistig transparenter zu machen. Denn während wir gewöhnlich dazu neigen, die an sich sinnvolle Unterscheidung verschiedener menschlicher Sinnesbereiche so zu verstehen, als handele es sich um getrennte Vorgänge, liegen in Goethes Beschreibung der „sinnlich-sittlichen Wirkung“ der Farben bereits wesentliche Ansätze für die Beobachtung der Ar t, wie das spezifische seelische Vermögen, das sich in einem be- stimmten äußeren Sinn betätigt, ebenso auch in einem oder mehreren anderen Sinnen angeregt und tätig werden kann. Farben können aber nicht nur laut oder leise, duftend oder herb, schwer oder leicht, sich ballend oder versprühend, warm oder kalt und so weiter sein, sondern alle Nuancen von Qualitäten besitzen, die wir für gewöhnlich mir anderen Sinnesbereichen verbinden. In dieser Perspektive läßt sich bereits ein erster möglicher Schlüssel zum Verständnis des obengenannten Diktums Rudolf L. Reiters erkennen. Denn, wenn man „das Unsichtbare“ nicht gleich auf ein immaterielles, aber gleichwohl optisch visualisier tes Etwas einengen will, so ist bereits jede Hörbare, jedes Tastbare oder jedes zu Schmeckende ein Unsichtbares. Betrachtet man unter dieser Perspektive die informellen Arbeiten Reiters, statt sie auf gestalterische Assoziationen oder rein formale kompositorische Strukturen hin zu analysieren, eröffnet jede einzelne von ihnen dem Betrachter eine zuweilen fast überwältigende Fülle an Er- lebnisqulitäten der unterschiedlichsten Ar t. Doch die bloß synästhetische Erfahrung von Farben und Struk- turen allein macht noch keine Kunst, obwohl sie den Schlüssel zu einem unendlich steigerbaren Er leben der visuellen Welt bieten kann. Kandinskys Wor t vom „Klang des Bildes“ geht noch über diese Ebene hinaus in das Gebiet, bei dem die Rede vom Geistigen der Kunst erst sachgemäß ist. Denn erst dann, wenn die unterschiedlichen, mit geöffneter und damit auch verletzlicher Seele synästhetisch zu er lebenden Phänomene so gestaltet werden, dass sie allmählich beginnen, miteinander zu korrespon- dieren, wird im Anschauen derjenige einmalige Zusammenhang zwischen den konkreten visuellen Phänomenen erfahrbar, der das Bild zum gelungenen machen kann. Die bloße Eröffnung und Entfesselung der Farb-, Form- und Gestaltenwelt allein ist hier nur die notwendige Voraussetzung für den künstlerischen Pro- zess, die mit den visuellen Elementen verbundenen Energien in einen lebendigen, zugleich notwendigen, aber dennoch einmali- gen Zusammenhang zu bringen. Das Motiv des klingenden Bildes ist von Kandinsky hierbei vielleicht nicht aus der Sympathie zu allem Musikalischen heraus gewählt worden, sondern aus der In- tuition, in jedem Klang etwas von einer Einheit von Gesetz und Freiheit spüren zu können. Farbe und bildnerische Materialien werden autonom eingesetzt. Der Arbeitsprozess unterliegt keinen starren Regeln, er folgt Prozessen des Unbewussten. t

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