Rudolf L. Reiter - Gegen den Strom
17 55 Als Wassily Kandinsky wenige Jahre nach dem Beginn des 20. Jahrhunder ts seine porgrammatische Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ veröffentlichte, ebnete er mit den darin entwickelten Gedanken nicht nur der abstrakten Malerei den Weg zum Erfolg, sondern ermöglichte zugleich damit auch ein neues Verständnis der ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken ganz unabhängig von der Frage „gegenständlich oder nicht?“. Im Unterschied zu der anderen, für die Entwicklung der unge- genständlichen Kunst wirkmächtigen Schrift „Abstraktion und Einführung“ von Wilhelm Worringer, in welcher die beiden im Titel genannten Vermögen erstmals als zwei gleichberechtigte psychologische Grundrichtungen der künstlerischen Gestaltung dargestellt wurden, er laubte sich Kandinsky, vom Geist zu sprechen, einer weit unsicheren, keineswegs etablier ten Instanz. Doch wer aufgrund des Titels nun in Kandinskys Schrift etwas über jenseitige unkörperliche Wesen oder metaphysische Kate- gorien zu lesen erwar tete, wurde – glücklicherweise – ent- täuscht. Denn Kandinsky versuchte vielmehr den Blick seiner Leser und Kunstbetrachter auf ein Geistiges zu lenken, das nicht hinter einer imaginären Schwelle liegend zu denken ist oder in For tführung traditioneller und spiritueller Inhalte bloß geglaubt werden kann, sondern auf etwas, das der Betrachter und Ge- nießer visueller Kunstprodukte jederzeit zu erfahren in der Lage sein sollte. Etwas, das nicht deshalb zuweilen so fremd und un- zugänglich erscheinen kann, weil es so weit von unserem ge- wöhnlichen Tagesbewußtsein entfernt ist, sondern deshalb, weil wir uns anschauend immer schon darin befinden. Angeregt und inspirier t durch das Kapitel über die „sinnlich-sitt- liche Wirkung der Farben“ in Goethes Farbenlehre, versuchte Kandinsky, den Gesetzmäßigkeiten der Farbenwelt auf eineWeise nachzugehen, die wissenschaftlich überprüfbar genannt werden darf, aber zugleich etwas ins Auge fasst, das strenggenommen bereits nicht mehr nur rein sinnlich erfahren wird. Goethes Begriff des „Sittlichen“, der für heutige Leser zunächst befremdlich erscheinen kann, meint hier zunächst nicht mehr und nicht weniger als einen zugleich mit der äußeren Wahrnehmung innerlich vollzogenen, reaktiven Prozess, der keineswegs unab- hängig von kulturellen Einflüssen gedacht wird. Der heute bereits Kunst zwischen Geist und Sichtbarkeit Zur Malerei Rudolf L. Reiters Wassily Kandinsky, um 1914 ro
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