Rudolf L. Reiter

Seite I 304 Zwei Bilder waren an diesem Tag bereits fertig gestellt, als die Tochter einer der drei Männer eine Stärkung vorbeibrachte. Zu deren Glück. So standen alle drei vor dem Haus. Nur Reiter gestaltete unweit des Türrahmens. Er arbeitete an dem dritten erst halbfertigen Gemälde, als ein Funkenschlag sekundenschnell den Atelierraum in Flammen setzte. Mit einem Sprung rettete er sich aus der lodernden Gefahrenzone. Aber seine Latzhose hatte Feuer gefangen. Beherzt rissen ihm seine Assistenten das brennende Stück vom Leib. Für das Atelier dagegen kam jede Hilfe zu spät. Ein Schock für die Familie. Dann fand der Künstler unter der Asche auf einer Spannplatte einen heilen Schriftzug: „Victoria“, den Namen der weiblichen Hauptfigur aus dem gleichnamigen Roman von Knut Hamsun. Seine literarische Lieblingsgestalt, für er über viele Jahre hinweg ein reiches Bilderwerk schuf und bis hinauf nach Norwegen sehr bekannt wurde. Ein kleines Glück. Doch die urgewaltige Zerstörung des Familienhauses saß tief. Aus dieser Krise heraus besann sich Reiter auf die Kräfte der Natur. „Ein Ruckeffekt für mich“, so erzählt der 62-Jährige heute. Denn bis dahin oszillierten Reiters Arbeiten zwischen informellen Bildfindungen und sanften Stimmungen im Stil der romantischen Moderne. Aus dieser Erfahrung des naturhaften Überwältigtwerdens entwickelte der Künstler neue Ideen für Skulpturen und einen vierteiligen Zyklus zu den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer. Die erlebte Kraft des Feuers führte wie von selbst zum Thema „Metamorphosen in der Spannung von Kunst und Natur“. „Zeit der Wandlung und Wiederkehr“ In der Biologie beschreibt der Begriff Metamorphose den Wandlungsprozess in der Entwicklung der Insekten von der Larve bis zur erwachsenen Form. Die Bedeutung übertrug Reiter auf sein eigenes künstlerisches Tun. Welche Wandlungsprozesse in der Form, so überlegte Reiter, erwirkt die Natur bei Gemälden. Wie verändert sich die Form eines Bildes unter dem Einfluss der Wirkmächte von Erde, Wasser, Luft und Feuer? Oder anders gesagt, können „an das Licht der Welt gebrachte“ Bilder erwachsen werden? Welche Spuren

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