Rudolf L. Reiter

„Tja, da ist eben das Paradox mit Gott. Da ist einer weg, ist nicht da, aber trotzdem ganz nah bei uns. Wenn jemand nicht da ist, dann ist er vielleicht einfach das Ganze. (…) Wenn jemand da ist, sieht man halt die Bescherung. Deshalb ist Gott lieber nicht da. Dann kann er alles sein und selbst in seiner Abwesenheit anwesend sein.“ (Schlingensief, Tagebuch, 2009) In der Krankheit braucht der Mensch mehr Fürsorge, Geborgenheit und sehnt sich nach einem tragenden Grund. Rudolf L. Reiter fasste seine Erfahrungen mit Krankheit und Tod in einem Gedicht zusammen: „Bis unsere Leben wieder eins sind“ „Wenn ich heute am Grab meines Körpers stehe, und gestern die Geburt meiner Mutter war, wenn ich heute die Leiden von morgen beweine und glücklich über die Stunden der Zukunft bin, wenn ich heute die Bilder von damals sehe, und gestern die Bilder von morgen sah. Wenn ich wieder am Anfang des Weges geh, und gestern der Weg zu Ende war. Wenn zwei Hälften zu einer werden, und das eine zu keinem wird, können die Hälften von gestern erst glücklich werden.“ Rudolf L. Reiter, 1982 In der Sehnsucht nach Ganzheit und Einssein, wie es Rudolf L. Reiter in seinem Gedicht formuliert, drückt er als Künstler ein grundsätzliches Wissen des Menschen über seine Bestimmung in der Welt aus. Zugleich scheint in Reiters Gedicht ein Grundanliegen menschlicher Existenz auf: es ist der Wunsch nach einem sinnvollen Leben und gelingenden Beziehungen. Die Sehnsucht danach bestimmt wesentlich das Menschsein. Unfall und Krankheit lassen aber echte und gefühlte Lebenskonzepte, Ideale vom schönen Leben, wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Die aufgerissene Wunde kann lebenslang Seite I 15

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