Rudolf L. Reiter

So tut sich hinter der als logisch unsinnig begriffenen Warum-Frage von Menschen leise ein viel größerer Horizont auf. Im Klageton des „Warum“ wird mit einem Schlage die Erkenntnis deutlich, dass der Mensch im Bewusstsein seines Todes lebt. Manche Denker wie z.B. Aristoteles (384 v. Chr.- 322 v. Chr.) sehen darin die Urquelle allen philosophischen Denkens. Doch die Erkenntnis der eigenen und aller Menschen Sterblichkeit schmerzt. Sie trifft den Menschen in seiner Seele mit Wucht. Verlassenheit, Wut und Trauer Der denkende Mensch und das erkennende Denken selbst unterliegen einem geschichtlichen Prozess. Gefühle aber entstammen frühen entwicklungsgeschichtlichen Zeiten. Tatsächliches Alleinsein und Verlassenheit gestalteten sich in der wilden Natur als lebensgefährliche Angelegenheit. Für das erschütterte Denken und das Gefühl der Verlassenheit taucht im Neuen Testament (ca. 40 n. Chr.) eines der später in der Kunstgeschichte am häufigsten dargestellten Motive auf. Es fixiert die erlebte Erfahrung von zahllos trauernden Menschen über die Zeiten hinweg. Es ist der geschundene blutende Jesus am Kreuz. Er schreit seinen Schmerz, sein Leid und sein tief empfundenes Verlassenheitsgefühl auf Golgotha hinaus in die beginnende Nacht. Schwere Krankheit und Unfälle schränken das Leben der Betroffenen häufig sehr ein. Erkrankte trauern dann über die verloren gegangene Freiheit und ein mögliches nahes Ende. Die Trauer der Erkrankten erscheint jedoch als eine andere, als die der Angehörigen, Kinder, Lebenspartner oder echter Freunde. Denn die Krankheit ist im Erkrankten, sie haftet ihm nicht nur an, sondern beeinflusst sein Erleben und Denken. Und er muss deshalb möglicherweise das Irdische früher verlassen, als ihm lieb ist. Die Angehörigen dürfen aber noch eine Weile bleiben und die Welt mitgestalten. Daher beinhaltet der Schrei nach dem „Warum“ keineswegs nur Angst und Trauer, sondern auch eine Portion Wut und Ärger. Aus dieser Wut heraus, in der ersten Phase des krankheitsbedingten inneren Aufruhrs, fand der von Lungenkrebs gezeichnete Regisseur Christoph Schlingensief einen tröstlichen Gedanken: Seite I 14

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