Rudolf L. Reiter

Seite I 11 Die Wunden meiner Seele „Zum Gaffen hat das Volk die Augen (…)“ lässt William Shakespeare (1564- 1616) den Mercutio in seinem Trauerspiel „Romeo und Julia“ sprechen. Der englische Dramatiker und Dichter kritisiert auf diese Weise die von Gier angetriebene Sensationslust an der Not und dem Elend anderer Menschen. Im Gegensatz zu dieser Verhaltensweise kann man heute immer häufiger beobachten, dass Menschen auf Abstand zu in Not geratenen Mitbürgern gehen. Sie wollen nicht hinsehen, weil es sie deprimiert, und sie sich vorab vor eventuell unangenehmen Regungen schützen wollen. Manche lassen Mitgefühl sogar Familienmitgliedern und Freunden gegenüber missen, weil sie sich dabei hilflos und überfordert fühlen. Dabei kann Anteilnahme für die jeweilige Person lebensrettend sein. Andere fürchten sich vor in Bedrängnis geratenen, weil sie an ihre eigene Begrenztheit undSterblichkeit erinnertwerden. SoverschiedendieReaktionen erscheinen, so gründen sie auch auf Resten ursprünglicher biologischer Verhaltensmuster. Atavistische Angst- und Fluchtreaktionen und ebenso gefühlte Hilflosigkeit liegen diesen meidenden Verhaltensweisen zugrunde. Doch der Mensch ist mehr als nur ein Instinktwesen oder vernunftbegabtes Tier. „Der Mensch ist dazu fähig, die begegnenden Objekte nicht nur als komplexe Stimuli zu empfinden, sondern sie auf ihr eigenes Sein hin zu deuten und zu respektieren“ (…) (Haeffner, Anthropologie, 1982). In Situationen, in denen ein anderer durch schwere Krankheit oder einen Unfall in Not geraten ist, vermag der Mensch genauso den Impuls, zu helfen, verspüren. Dieser Impuls gründet nach Immanuel Kant (1724-1804) auf einer innerlich wahrgenommenen Art von Ausrufezeichen, dem Gewissen. Der deutsche Philosoph hat dieses im Innersten des Menschen verankerte und allen Urteilen vorausgehende Moment selbst „Gewissheit“ genannt. Der Mensch steht zwar als biologisches Sinnenwesen unter der Vorherrschaft des Naturgesetzes, doch sei sein Wille nach Kant frei durch die Bestimmung der Vernunft. Über die Vernunft hat der Mensch teil an der Verstandeswelt.

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